Samstag, 9. April 2016

Eine Lanze für Europa

Als ich gestern diese Karikatur


in unserer lokalen Tageszeitung sah, kamen mir fast die Tränen. Zwar ist es schwierig, einzusehen, warum 60% eines Drittels der Wahlberechtigten eines kleinen Landes – insgesamt ein paar wenige Millionen – über die politische Zukunft von über 550 Millionen Menschen bestimmen können. Aber angesichts der bevorstehenden Abstimmung in Großbritannien, die ja mit den Panama-Papers-Enthüllungen über den derzeitigen britischen Premierminister (und dem anschließenden katastrophalen Krisenmanagement, das er und seine Berater vollführt haben) kaum noch auf einen für den Verbleib in Europa stimmendes Ergebnis hoffen lässt, und der einzelstaatlichen Verweigerungs-Aktionen der östlichen Mitgliedsstaaten im Rahmen der Flüchtlingskatastrophe fragt man sich, wie das mit Europa tatsächlich weitergehen soll und wird.
Es ist noch nicht wirklich lange her, dass die EU den Friedensnobelpreis bekommen hat – jetzt fragt man sich, wofür eigentlich? Vielleicht im Vorgriff auf das, was damals noch kommen sollte? Aber hat die EU als Ganzes sich in den vergangenen Monaten als preiswürdig oder dieses Preises würdig präsentiert? Doch selbst wenn mit dieser EU gerade nicht alles großartig läuft, und es könnte in vielen Bereichen adurchaus besser laufen, das will ich überhaupt nicht bestreiten: eine bessere haben wir derzeit nicht. Und ohne die EU wäre es ganz bestimmt nicht besser.
Ich würde gerne wissen, was sich die Leute, die vehement gegen die EU sind, und das in Abstimmungen auch kundtun, eigentlich vorstellen, wie es in Europa aussähe, wenn es diese Union in den vergangenen Jahrzehnten nicht gegeben hätte. Wir haben eine gnadenvoll ausgedehnte Phase des Friedens erlebt, wie es sie vorher in Europa nie gegeben hatte. Und das nach zwei Weltkriegen, nach deren Ende man eigentlich hätte befürchten müssen, dass es in nur wenigen Jahren wieder losgeht, was dann das endgültige Aus und Ende bedeutet hätte. Ich frage mich, ob die Briten, die so vehement den Brexit betreiben, ernsthaft und wahrhaftig der Ansicht sind, dass es ihnen ohne die Einbindung in die EU heute besser ginge als es das tut. Das Commonwealth wäre auch auseinandergefallen, ohne die erst nach den ersten Zerfallserscheinungen einsetzenden Vorstufen zur EU. Auch in Großbritannien profitieren die normalen Konsumenten von den preiswerten Orangen aus Südeuropa, genau wie wir hier. Das gäbe es nicht ohne den Binnenmarkt.
Wir haben seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in ganz Europa als Nutznießer einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, wie er eigentlich nicht vorstellbar war. Allerdings in vielen Bereichen auf Kosten der Länder, deren Flüchtlinge jetzt bei uns vor der Tür stehen.
Es geht uns so unglaublich gut – ist es da wirklich so schwer, mit anderen zu teilen? Das betrifft einerseits die Flüchtlinge, die vor unseren Grenzen stehen und Einlass fordern. Das betrifft aber andererseits auch die Bevölkerung der Ukraine, für die lediglich ein Handelsabkommen ausgehandelt worden war. Das haben die Niederländer mit ihrem Nein jetzt erstmal gefährdet. Dabei ging ja nicht um eine EU-Erweiterung!

Und was ich mich vor allem frage, ist: wo sind eigentlich die Befürworter dieses Europas, von dem wir hier alle profitieren? Warum schaffen es die Gegner soviel besser, die Unzufriedenen zu mobilisieren? Wo ist die Partei der Europafreunde, der man Unterstützung geben könnte oder warum schafft „Brüssel“ es nicht, die Errungenschaften der EU den Bürgerinnen und Bürgern auch positiv zu vermittel? Und wann fangen wir an, die positiven Effekte, die wir durch die EU in unserem täglichen Leben haben, zu benennen und mit Anerkennung zu würdigen?

Ich für mein Teil genieße sehr die Reisefreiheit. Den Euro hätte ich vielleicht nicht unbedingt gebraucht, weil es ja auch Spaß macht, in anderen Währungen rechnen zu müssen und einzukaufen. Allerdings  ist es auch praktisch, wenn man einfach so nach Frankreich, Italien oder Österreich fahren kann, ohne vorher nachzusehen, ob man auch die entsprechenden Mittel zu Hause hat. Für mich hat sich der Horizont durch die EU enorm erweitert, und ich bin dankbar um die europäischen Freundschaften, die ich geschlossen habe. Es wäre toll gewesen, wenn es zu meiner Schulzeit so einfach gewesen wäre, Kontakte in andere Länder zu knüpfen. Vielleicht wären dann meine Fremdsprachenkenntnisse noch ein bisschen breiter gefächert.
Was nicht heißen soll, dass ich alles nur unkritisch gut finde, im Gegenteil. Aber mit Meckern und rückschrittlichem Denken kommt man nicht weiter. Geschlossene Schlagbäume sind eine Bedrohung für den Frieden, den wir erlebt haben. Und ich bin egoistisch genug, dass ich nicht möchte, dass mein heute knapp 11-jähriger Sohn vielleicht doch nochmal als Soldat in einen transeuropäischen Krieg ziehen muss.

1 Kommentar:

  1. Eigentlich müssten alle vernunftbegabten Europäer so denken und sich so artikulieren. Dass es nur so wenige tun, lässt einen erschrecken und vermuten, dass viel zu viele zum Einen nur an ihr kurzfristiges Wohlergehen denken und nicht das Große und Ganze auf lange Sicht und zum Anderen, dass wir in unserem derzeitigen Wohlergehen satt und bequem geworden sind. Die schweigende Mehrheit hatten wir schon einmal und wohin das geführt hat, das haben wir in Konsequenz teuer bezahlt.

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